Perfektionswahn
Perfekt sein ist das falsche Ziel
„Ich bin dick“, erklärt Ricarda Lang, Sprecherin der Grünen Jugend, in einem Beitrag im Online-Jugendmagazin Bento ganz sachlich. „Es gibt Tage, an denen mich das stört, es gibt Tage, an denen mir das egal ist und es gibt Tage, an denen ich mich schön fühle.“ In der Welt, in der wir leben, führt ihr Abweichen vom Schlankheitsideal jedoch zu einem heftigen Spießrutenlauf. Denn egal zu welchen Themen sich die engagierte Frau in den sozialen Medien äußert – sei es Lohngleichheit, Kinderarmut oder Kohlekraftwerke: Als Antwort kommen Kommentare zu ihrem Aussehen. Die netteren davon lauten: „Abstoßendes fettes Pummelchen“ und „Stopf Dich ruhig voll, bis Du platzt“. Besonders übel und verabscheuenswert wird es, wenn bei ihren Beiträgen zur MeToo-Debatte gepöbelt wird, sie könne doch froh sein, wenn überhaupt ein Mann Sex mit ihr haben wolle. Beim Lesen des Artikels von Ricarda Lang schüttelt es mich und ich schäme mich zutiefst für diese Menschen, die andere aufgrund von Äußerlichkeiten abwerten und demütigen.
Erfahrungen wie die der jungen Politikerin verdeutlichen jedoch auch, warum in uns allen eine tiefe Angst vor dem Nichtperfektsein sitzt. Schließlich müssen wir ganz real fürchten, auf diese oder ähnliche Weise kritisiert und abgelehnt zu werden. Daher bemühen wir uns, alle Angriffspunkte auszuschließen: Wir erledigen unseren Job gewissenhaft, strampeln uns im Fitnesscenter ab und gehen verständnisvoll auf Partner und Kinder ein. Trotz dieser Anstrengungen wird es uns jedoch nicht gelingen, immer und in allen Punkten das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Früher oder später wird etwas passieren, bei dem sich andere Menschen zu unschöner Kritik berufen fühlen: sei es eine nicht erfolgte Beförderung, eine Scheidung oder ein paar Kilos zuviel. Dann leiden wir und fühlen uns schlecht – und verstärken die Kritik von außen noch mit unseren eigenen Gedanken. Denn wenn wir einmal genau hinhören und ehrlich mit uns selbst sind, haben wir eine ähnlich brutale Stimme in unserem Kopf, die uns im Fall des Scheiterns als zu fett, zu dumm, zu undiszipliniert oder was auch immer beschimpft – der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.
Gegen diese ständig meckernde innere Stimme, die uns schwächt, sollten wir vorgehen – auch wenn das nicht ganz einfach ist, schließlich leben viele von uns schon Jahrzehnte mit ihr. Daher ist es besonders wichtig, ihr ganz bewusst und Schritt für Schritt immer weniger zuzuhören und sich stattdessen positive und gleichzeitig realistische Ziele zu setzen. Sich zu fragen: Wo stehe ich im Moment? Was kann ich erreichen, wenn ich mich anstrenge? Welchen Aufwand will ich dafür betreiben? Ebenso wichtig ist es, sich auf dem Weg zum selbst gesteckten Ziel mit Wohlwollen und Selbstmitgefühl zu begegnen.
Entwickeln wir also unsere eigenen sinnvollen Maßstäbe statt uns vom Schlankheits- und Sportlichkeitswahn in den Medien oder in unserem privaten Umfeld zu erbarmungsloser Selbstkritik treiben zu lassen. Und seien wir auch möglichst nett zu uns selbst, wenn uns ein Missgeschick passiert oder wir ein Ziel nicht erreichen. Gelingt uns das, ist der erste wichtige Schritt bereits getan. Tragen wir dann in einem zweiten Schritt wie Ricarda Lang mit ihrer mutigen Streitschrift dazu bei, besonders abscheuliche Kritiker in die Schranken zu weisen, dann ist auch für unsere Gesellschaft viel gewonnen.
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